Für eine neue Perspektive auf ein altes Problem, ist es manchmal hilfreich an einen bekannten Ort zurückzukehren. In den letzten Woche habe ich meine alte Studienstadt Heidelberg besucht, und mit vielen alten Freunden gesprochen. Es gab reichlich kritische Diskussion und viel produktiven Input… auch über meinem Blog-Artikel vor einigen Wochen.
Hat Philosophie gesellschaftliche Relevanz?
Vor dem Hintergrund meines Berufsstarts hatte ich in diesem früheren Blogpost einen sehr pessimistischen Eindruck von der Wirkung der Philosophie in der Gesamtgesellschaft verarbeitet. Die hochgelehrten Debatten an den Universitäten dieses Landes haben außerhalb der akademischen Welt keine Wirkung. Die Bevölkerung interessiert sich nicht für philosophische Fragen. Schaut man sich an, welche Themen in Online-Medien Aufmerksamkeit bekommen, so stößt man auf Sport, Musik, Autos oder Kochrezepte. Menschliches Handeln folgt zumeist nicht irgendwelchen philosophischen Überzeugungen, sondern orientiert sich daran, konkrete Lebensverhältnisse zu verbessern. Wo bleibt da die Wirkmächtigkeit der Geisteswissenschaften und der Philosophie im speziellen?
Historische Relevanz
Die Philosophie, auch und speziell die akademische Philosophie hat in der Menschheitsgeschichte enorme gesellschaftliche Bewegungen ausgelöst. Die Staatstheorie Platons und Aristoteles entfaltete erst im Mittelalter ihre volle Wirkung und wurde prägend für das Selbstverständnis der politischen Eliten. Die Nikomachische Ethik des Aristoteles liegt in der gesamten antiken Welt in zahllosen Abschriften vor. Das Christentum, (das sich ebenfalls als Philosophie interpretieren lässt) verbreitete sich innerhalb weniger Jahrhunderte in Europa, und prägte die Lebens- und Weltsicht von Millionen Menschen. Der Humanismus als geistige Bewegung im 15. und 16. Jahrhundert brachte nicht nur bahnbrechende Entwicklungen in Kunst und Kultur zu Stande, sondern löste auch die Entdeckungsfahrten Magellans und Christoph Kolumbus aus. Die Französische Revolution ist ohne die philosophischen Vordenker der Aufklärung nicht denkbar. Ebenso wenig wie der real existierende Kommunismus ohne die Theorien von Karl Marx. Der Nationalsozialismus und all seine Gräueltaten basierten auf einer sozialdarwinistischen Philosophie. Wie immer man all diese Bewegungen inhaltlich oder moralisch bewerten möchte: Hier haben Gedanken und philosophische Konzepte die Gesellschaft geprägt, auch wenn es Jahrhunderte dauerte.
Zum Abschluss der kleinen Liste, sei einer meiner Lieblingsdenker, der Philosoph Charles Irenée de Castel Abbé de St. Pierre (1658-1743) genannt. Im Jahre 1712 veröffentlichte er seinen Entwurf zu einem Völkerbund, in dem alle Staaten Vertretung haben sollten. Von seinen Zeitgenossen als weltfremder Phantast abgetan, kam St. Pierres glorreicher Moment 200 Jahre später, als am 10. Januar 1920 der Völkerbund (Vorgängerorganisation der UNO) seine Arbeit aufnahm. Philosophie ist ein sehr langwieriges Geschäft.
Philosophie und Breitenwirkung
Die akademische Philosophie hat also faktisch die Gesellschaft bewegt. Noch viel wichtiger ist aber: Wer mit offenen Augen durch die Gesellschaft geht, der sieht, dass sich die Menschen allerorten philosophische Fragen stellen: Ein Programmierer zweifelt, ob sein Gehalt ihn glücklich macht: Denn je mehr er verdient, desto weiter steigt der gesellschaftliche Erwartungsdruck. Ein Doktorand forscht über Sprachverarbeitungsprogramme und macht sich Sorgen, was Google und die NSA eines Tages mit seinen Forschungsergebnissen anstellen werden. Ein Neurologe fragt sich, ob er durch eine Diagnose das Leben eines Patienten zerstört, nur weil dieser jetzt weiß, dass er vielleicht krank wird. Und ein Taxifahrer fragt sich, wie das Gehirn und das Menschliche Empfinden zusammenhängen.
Immer wieder ist Philosophie mit konkreten Fragen der menschlichen Existenz verknüpft: Wie sollen wir Leben? Was ist gutes und schlechtes Handelnd? Wie beeinflusst uns unser Wissen? Wo solche konkreten Fragen der Menschen berührt werden, da ist Philosophie für die breite Masse interessant. Akademische Debatten drehen sich jedoch häufiger um „Den Begriff der Inkommensurabilität bei Thomas Kuhn“ oder „Die Rezeption der Verfassung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in den Schriften Gottfried Wilhelm Leibniz‘ zum Kongress von Nimwegen“.
Philosophie-Blog
Wer philosophischen Themen zu gesellschaftlicher Relevanz verhelfen will, der muss sie entsprechend aufbereiten; er muss sie verständlich formulieren und auf konkrete Fragen beziehen. In den nächsten Monaten möchte ich das einmal ausprobieren. Die Philosophie-Kategorie wird ab heute zur zweiten Hauptkategorie des Blogs neben „Web und Gesellschaft“. Ich möchte versuchen, einige Themen zu bearbeiten, die philosophischen Tiefgang, aber trotzdem für das konkrete Leben Relevanz haben. Wünscht mir Glück dabei.
Lieber Thomas,
ich habe mit großer Freude deinen Beitrag gelesen. Ich danke dir dass du mich so zum Nachdenken bringst! Ich erlaube mir ein paar Kommentare zu deinen Thesen zu machen. Es sind viele interessante Punkte angeschnitten worden die sich perfekt zu ganzen Beiträgen eignen würden. Zum Beispiel: ist die moderne philosophische Ausbildung eigentlich noch zeitgemäß? Wie ich meine “herausgehört” zu haben, bist du eher unzufrieden mit der Themenwahl der Diskussionen in akademischen Kreisen. Wie kann und soll das moderne Philosophie-Studium (und die moderne Philosophie-Forschung aussehen)? Einige Aspekte unseres sozialen und politischen Lebens scheinen dringend mit neuen philosophischen Impulsen weiter getrieben zu werden. Zwei Beispiele: 1) Deutschland wird zunehmend zu einem multikulturellen Land und 2) die Altersstruktur der Bevölkerung wird sich in den nächsten Jahrzehnten dramatisch verändern. Der erste Punkt erfordert ein neues Verständnis von Kultur, Integration, von der Rolle der Religion in einem Staat. Ein gemeinsamer Nenner wird gesucht, wie immer, und Philosophie muss helfen diesen gemeinsamen Nenner zu finden. Der zweite Punkt ist aus meiner Sicht komplett vernachlässigt in der ökonomischen Welt – in 30-40 Jahren wird Deutschland (vorausgesetzt es keinen großen Krieg und keine sonstige ökonomische oder soziale Schocks gibt) circa 12 Mio Menschen weniger haben. Und die Altersverteilung wird eine ganz andere – Deutschland wird sehr alt sein. Das sind so gut wie sichere Tatsachen. Die Philosophie-Forschung muss – zusammen mit der VWL – Antworten auf wichtige ethische und Verteilungsfragen geben, sonst steuern wir in einen Krieg der Generationen. Ein modernes Philosophie-Studium und eine moderne Philosophie-Forschung sind Voraussetzungen dafür, dass wir diese Herausforderungen als Gesellschaft meistern können. Was muss genau gemacht werden? Gefragt ist ein Philosoph.
Wenn ich so weiter denke fallen mir noch ein-zwei Punkte ein. Als ich BWL an der Uni Mannheim studiert habe gab es noch keine VWL-Ethik-Veranstaltung. Ein gab im gesamten VWL-Studium eine einzige Veranstaltung die dieses Thema kurz angeschnitten hat: Finanzwissenschaft. Das letzte Kapitel der Veranstaltung widmete sich der Unternehmensethik und ich kann mich an meine Enttäuschung gut erinnern, als die letzte Vorlesung ausfiel und das Kapitel für nicht-klausurrelevant erklärt wurde (der damalige Dozent hatte sich die Achillessehne beim Fußball zerrissen). Dabei -wie ich finde – ist es gerade bei Betriebs- und Volkswirten so wichtig dass sie eine relevante philosophische Ausbildung bekommen. Also habe ich mich gefragt warum eigentlich Philosophie so abgekoppelt ist von diesen Studiengängen. In den Bereichen Wirtschaftsmathematik und Wirtschaftsinformatik, aber damals noch auch in der technischen Informatik, fehlt jede Spur von philosophischem Ansatz. Menschen die morgen an/mit künstlicher Intelligenz oder hochsensiblen privaten Daten in Großbetrieben arbeiten werden werden nie ein Wort von Ethik an der Uni gehört haben. Ähnlich bei unserem VWL “Forschungs-Nachwuchs”: es handelt sich hier um Kohorten von Wissenschaftlern, die nie eine Wissenschaftsphilosophie-Veranstaltung gehört haben. Die meisten meiner Kollegen haben entsprechend auch nie einen Gedanken darüber verloren wie genau unsere Arbeit zu Wissen führt. Also wenn wir die Frage nach der fehlenden gesellschaftlichen Relevanz der Philosophie stellen, wäre ein erster Ansatz zu schauen warum Philosophie in unserer Ausbildung so wenig gelehrt wird.
MfG
Ein.Nicht.Philosoph
Hallo Petyo,
schön, dass ich immerhin einen Menschen zum Nachdenken bringe. Da hat sich der Blog ja schon einmal gelohnt 😉
Und vielen Dank für deinen mehr als interessanten Input. Und du hast Recht: Die Themenwahl im philosophischen Studium betrachte ich im Nachhinnein als etwas defizitär. Wie ich die akademische Lehre (und später auch Forschung) erlebt habe, ist man meist damit beschäftigt sich sehr tief gehend und detailliert in das Denken einzelner Philosophen einzuarbeiten. Wie auf Basis von deren Theorien dann ganz aktuelle Probleme bewertet werden müssten, kommt allenfalls nebenher vor: In der letzten Stunde eines Philosophie-Seminars als „Ausblick“ oder in der Einleitung wissenschaftlicher Aufsätze in den üblichen Phrasen: „Warum das Denken von Pseudo Dionysius Areopagita heute noch relevant ist.“ Es müssten viel mehr Problem-bezogene Lehrveranstaltungen/Forschungen stattfinden. Insbesondere zu aktuellen Gesellschaftspolitischen Debatten: Was bedeuten die Folgen der Globalisierung für den Mensch des 21. Jahrhunderts? Was macht die Digitalisierung aus uns? Wie ist das Verhältnis des Menschen zu seinen Daten und wie sollte er mit ihnen umgehen? Oder die Multikulturelle Gesellschaft und die sich ändernde Altersstruktur, die du angesprochen hast. All das findet leider eher bei einem Bier unter Philosophen-Kollegen statt, als während der „philosophischen Arbeit“.
Was die mangelnde philosophische Ausbildung in anderen Studiengängen angeht, hast du ebenfalls recht. Ein Grund, warum das so ist, könnte sein, dass die Philosophen, die ich kenne, keinerlei Ambition haben, mit ihren Theorien, Urteilen oder Interpretationen an ein Nicht-Philosophisches Publikum heranzutreten. Die Leute könnten ja widersprechen oder man müsste Sachverhalte erklären, die innerhalb der Philosophischen Zunft als bekannter Konsens vorausgesetzt werden können. Das reine Philosophie-Studium enthält auch keinerlei didaktische Ausbildungselemente. Man wird eben dazu ausgebildet mit anderen Philosophen über Philosophie zu reden, nicht mit Leuten aus anderen Wissensgebieten.
Insbesondere die „angrenzenden“ Zünfte („Wissenschaftsphilosophie/Wissenschaft; Wirtschaft/Ethik-Sozialphilosophie; Politik/Politische Philosophie“) könnten natürlich viel lernen, wenn sie kooperieren würden.
Schön jedenfalls dass wenigstens wir beiden diesen Diskurs hinkriegen 😉