Mit ihrem neuen Kompromissvorschlag zur Netzneutralität wollte die Bundesregierung einen Kompromissvorschlag in der kontroversen Debatte um Internetfreiheit und die Gleichbehandlung von Daten im Netz vorlegen. Doch die neue Vorlage aus dem Wirtschaftsministerium öffnet die Büchse der Pandora.
Am Donnerstag 4. Dezember stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Vodafone-Konferenz die neuen Leitlinien vor, mit denen die Bundesregierung auf europäischer Ebene das Thema Netzneutralität diskutieren möchte. Konkret geht es um die Frage, ob alle Datenpakte im Internet mit der gleichen Geschwindigkeit übermittelt werden sollen, oder ob Telekommunikationsanbieter wie die Telekom oder Vodafone selektieren dürfen. Auf den Punkt gebracht: Dürfen Daten schneller übermittelt werden, wenn sie von den Providern als dringlicher eingestuft oder besser bezahlt werden als andere Datensätze. Unter Leitung des Bundeswirtschaftsministeriums soll ein Entwurf ausgearbeitet werden, der alsbald den Gremien der EU vorgelegt werden wird.
Netzneutralität: Eine kontroverse Debatte
Die Debatte über Netzneutralität ist schon seit langem in vollem Gange. Schon seit Beginn des Jahres ringt die amerikanische Netzagentur FCC unter ihrem Vorsitzenden Tom Wheeler um eine einheitliche Position zu dem Thema. (Frühere Artikel in diesem Blog hier und hier) Grund ist ein Gerichtsurteil, dass die FCC umsetzen muss. In einem mit knapper Mehrheit veröffentlichen Entwurf im Mai wurden sogenannte „Fastlanes“ (Überholspuren) nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen. Energischer weltweiter Protest hatte sich daraufhin in der Internetgemeinde entzündet. Jüngst hatte sich US-Präsident Barack Obama jedoch für eine Verankerung von strengen Prinzipien der Netzneutralität in amerikanischem Recht ausgesprochen. Hier
Das EU-Parlament: Bastion der Netzneutralität
Schon lange ist die Debatte über Netzneutralität nicht mehr auf Amerika beschränkt, sondern hat auch Europa erfasst. Verschiedene Verantwortliche in großen Telekommunikationsunternehmen (namentlich der frühere Telekom-Vorsitzende René Obermann ) haben sich bereits mit ihren Forderungen zu Wort gemeldet. Als Garant einer strengen Auslegung von Netzneutralität, bei der alle Datenpakete weiterhin gleich behandelt werden müssen, gilt in Europa das EU-Parlament, welches im April mit den Stimmen von Liberalen, Sozialdemokraten, Grünen und Sozialisten ein Gesetz verabschiedete, und Ungleichbehandlung von Daten im Netz eine Absage erteilte. Artikel bei Golem
Selbst Sascha Lobo honorierte die Position in seinem viel beachteten „Rant“ auf der Digitalkonferenz Re:publica diesen Jahres.
Netzneutralität vs. Innovation und Spezialdienste
Die Argumente und Vorschläge, die Angela Merkel und die Bundesregierung den europäischen Gremien auf absehbare Zeit vorlegen möchten, sind nicht neu. Bestimmte Dienste, so Merkel, benötigten auf Grund ihrer technischen Struktur und ihren Anforderungen einfach schnellere Übertragungsraten und richtig zu funktionieren.
„Wenn Sie das fahrerlose Autofahren haben wollen, oder wenn Sie bestimmte telemedizinische Anwendungen haben, dann müssen sie natürlich eine fehlerfreie und immer gesicherte Übertragung haben“
Innovative und neue Dienste müssen also schneller und verlässlicher übermittelt werden. Zeitgleich will die Bundesregierung verhindern, dass Telekommunikationsunternehmen nur noch besonders lukrative Datenübermittlungstechnologien pflegen. Neben Spezialdiensten, die besonders dringliche Daten bevorzugt übermitteln dürfen, soll ein uneingeschränkter Standardbetrieb aufrecht erhalten werden müssen. Unternehmen dürfen also nur dann schnelle Spezialdienste anbieten, sofern sie auch reibungslosen und diskriminierungsfreien Datenverkehr im offenen Internet garantieren können.
„Spezialdienste dürfen nicht als Ersatz für einen uneingeschränkten oder beschränkten Internetzugang vertrieben werden.“
Die Büchse der Pandora
Auf den ersten Blick bietet die Bundesregierung hier ein durchdachtes Konzept an. Es versucht einen Kompromiss zu finden zwischen Daten, die mit höherer Dringlichkeit übermittelt werden müssen, und einem Anrecht aller Internetuser auf Nutzung aller erdenklicher Angebote. Doch was sich wie ein Kompromiss anhört, ist kein Kompromiss, weil es einen Kompromiss in dieser Frage nicht geben kann.
Weil die Ungleichbehandlung von Datenmengen nach dem neuen Vorschlag grundsätzlich möglich wird, ist ein gefährlicher Rechtssatz in die deutsche Internet-Debatte eingebracht. Sobald nicht mehr alle Datenpakte gleich behandelt werden müssen, ist eine fortwährende und ständige Überprüfung der Kriterien notwendig, nach denen die Übermittlungsgeschwindigkeit für jedes Datenpaket abgewogen wird. Hinter jeder Entscheidung stehen technische Überlegungen aber auch handfeste wirtschaftliche Interessen der Telekommunikationsunternehmen, die nicht in jedem Fall mit den Interessen der Internetnutzer übereinstimmen müssen.
Wer soll die fortwährende und ständige Überprüfung der Übermittlungskriterien leisten? Offenbar müssen dies politische Gremien und Behörden übernehmen. Will man aber aus einem Querschnitt an politischen Regelungen der letzten Jahrzehnte eine Lehre ziehen, so sieht diese leider folgendermaßen aus: Unternehmerische Verwaltungsgremien identifizieren und nutzen Gesetzeslücken grundsätzlich wesentlich schneller, als Behörden und gesetzgeberische Entscheidungsgremien sie schließen können.
Mit der Aufweichung der Netzneutralität wird eine Büchse der pandora gefährlich weit geöffnet. Es bleibt nur zu hoffen, dass die EU-Gremien den Schrecken Einhalt gebieten werden, die in die Debatte zu entweichen drohen.